Warum fühl ich nichts?
Es gibt diese Phasen, in denen du äußerlich gesehen alles zu haben scheinst: ein gutes Leben, eine liebevolle Familie, beruflichen Erfolg oder zumindest Stabilität. All die Dinge also, für die andere dich vielleicht sogar beneiden. Du funktionierst, du gibst, du trägst Verantwortung, du leistest. Und doch sitzt du manchmal einfach da. Auf der Couch am Abend oder auf dem Weg zur Arbeit am frühen Morgen. Und du fragst dich ganz leise, vielleicht sogar schamvoll: Warum fühl ich nichts?
Du hast dich durch Jahre von Therapie gearbeitet, unzählige Bücher gelesen, jede einzelne Kindheitswunde ausgeleuchtet, jedes Trauma seziert, verstanden, durchfühlt. Zumindest theoretisch. Du kennst die Sprache deiner inneren Anteile. Du erkennst deine Trigger. Du analysierst Schutzstrategien im Schlaf. Und trotzdem gibt es diese Momente, in denen du dich leer fühlst. Überfordert. Taub. Abgeschnitten. Du verstehst alles, aber du bist nicht wirklich da.
Und dann ist da dieser innere Druck. Dieses diffuse Ziehen in der Brust. Eine Stille, die sich nicht nach Frieden anfühlt, sondern wie innerer Stillstand. Du fragst dich, warum du dich nicht mehr freuen kannst über Dinge, die dich früher begeistert haben. Warum dich das alles nicht mehr berührt: die Schönheit, die Nähe, das Lachen. Warum dich Reisen, Berührungen oder selbst tiefe Gespräche oft nur noch müde machen. Du sitzt vielleicht mit einem wunderschönen Menschen an einem traumhaften Ort und spürst… nichts. Kein Ankommen. Kein echtes „Ich bin hier und das ist genug.“
Und dann taucht sie auf, diese Stimme in deinem Kopf. Sie flüstert dir zu: „Was stimmt nicht mit dir?“, „Du bist undankbar.“, „Du hast doch alles und trotzdem suchst du noch?“, „Du bist kaputt.“ Und vielleicht glaubst du ihr sogar manchmal. Fragst dich, ob du falsch verdrahtet bist. Ob du kalt geworden bist. Innerlich tot.
Ich verstehe das. Ich kenne diese Stimme. Sie war über viele Jahre mein ständiger Begleiter. Was du fühlst – oder eben nicht mehr fühlen kannst – hat einen Namen. Es ist ein medizinisch und psychologisch anerkanntes Phänomen. Es nennt sich Anhedonie. Oft tritt es in Zusammenhang mit High-Functioning Depression auf. Dazu werde ich in einem anderen Beitrag tiefer einsteigen, doch heute möchte ich dir etwas noch Grundsätzlicheres mitgeben.
Denn was dir vielleicht niemand gesagt hat und was ich selbst erst sehr spät verstanden habe, ist: Dieses Nicht-Fühlen-Können ist kein Zeichen von Undankbarkeit. Es ist keine spirituelle Unreife. Und ganz sicher keine Charakterschwäche. Es ist ein Schutzmechanismus. Einer, der früher überlebenswichtig war.
Denn für viele von uns war das Fühlen in der Kindheit eine reale Gefahr. Nicht metaphorisch, sondern ganz konkret. Vielleicht wurdest du ausgelacht, wenn du geweint hast. Oder du wurdest ignoriert. Oder gar bestraft, wenn du Angst gezeigt hast oder dich gefreut hast. „Sei nicht so laut. Sei nicht so wild. Reiß dich zusammen.“ In solchen Momenten lernt ein Kind unbewusst, aber tief: Gefühle sind gefährlich. Sie führen zu Ablehnung, zu Schmerz, zu Verlust.
Und das Nervensystem – dein innerer Schutzengel – speichert diese Erfahrung ein: „Fühlen ist nicht sicher.“ Also beginnt es, dich zu schützen. Es kappt die Verbindung. Nicht aus Schwäche, sondern aus Überlebensintelligenz.
Du wirst zum Profi im Funktionieren. Du lernst, zu geben, auch wenn du dich leer fühlst. Du lachst, obwohl es innen still ist. Du erklärst, analysierst, reflektierst, nur um eines zu vermeiden: wirklich zu fühlen.
Und irgendwann stehst du an diesem Punkt: Du lebst, aber du erlebst dich nicht mehr. Du weißt viel, aber du bist nicht wirklich da. Du liebst Menschen, aber du spürst sie nicht mehr tief. Und dann, in der Stille, vielleicht in einem Moment völliger Erschöpfung, taucht er wieder auf – dieser stille Wunsch: Ich will wieder fühlen.
Doch sobald sich ein echtes Gefühl nähert, reagiert dein System mit Panik. Der Verstand springt an, Gedanken überschlagen sich, dein Körper zieht sich zusammen. Denn dein innerer Wächter glaubt noch immer: „Das überlebe ich nicht nochmal.“
Also versuchst du, die Kontrolle zu behalten. Du willst alles analysieren, alles verstehen, alles planen. Weil du denkst: Wenn ich es kontrolliere, tut es vielleicht nicht so weh. Doch hier liegt der Irrtum. Die Antwort liegt nicht in noch mehr Kontrolle. Sie liegt im Loslassen. Nicht im Klammern. Nicht im Bewerten. Sondern im Dasein. Im stillen Mitfühlen.
Du musst deine Gefühle nicht managen wie ein Projekt. Du musst nicht alles verstehen. Was du brauchst, ist Präsenz. Ehrliche, weiche Präsenz. Bleib einfach da. Leg eine Hand auf dein Herz. Atme. Zehn Sekunden Stille. Ohne Worte. Ohne Erklärung. Nur spüren. Und du wirst merken: Du zerbrichst nicht. Du bist sicher. Selbst jetzt. Gerade jetzt.
Und irgendwann registriert dein Nervensystem: Ich habe etwas gefühlt – und die Welt ist nicht untergegangen. Genau da beginnt Vertrauen. Genau da beginnt Rückverbindung. Nicht im Kopf. Im Körper. In dir.
Du brauchst kein neues Konzept. Du brauchst Erlaubnis. Und Zeit. Und kleine Schritte. Sanfte, echte Schritte zurück in deinen inneren Raum.
Denn du bist nicht kaputt. Du warst nur lange geschützt. Und jetzt darfst du zurückkommen.
Und falls du es vergisst – und das wirst du – lies diese Zeilen einfach nochmal.
Fühlen ist kein Fehler. Es ist dein Weg zurück zu dir.